Seit einigen Tagen ist es um RUHR.2010 aus den bekannten Gründen etwas ruhiger geworden. Das gibt mir die Gelegenheit, eine Projektidee für die Kulturhauptstadt zu skizzieren, die schon seit einigen Wochen in meinem Hinterstübchen ablagert. Vor lauter Mega-, Giga- und Teraevents war ich irgendwie nicht dazu gekommen, die Sache weiter auszuarbeiten.
Die Idee geht so: Überall im Ruhrgebiet, auf Plätzen, Hinterhöfen, in (Schreber-)Gärten, auf Golfplätzen, Flachdächern usw. bauen die Ruhris, z.B. eine gute Woche vor Beginn der Schulferien, große Schwenkgrills auf und grillen von da an eine Woche lang, was das Zeug hält. Am besten auch nachts. Nonstop!
Dieses Event würde nach meiner Auffassung die zentralen Auswahl- und Erfolgskriterien von RUHR.2010 für die Kulturhauptstadt in hervorragender Weise erfüllen:
1. Es ist massenkompatibel. Mindestens 1 Million Mitwirkende sind der Veranstaltung sicher. 2 Millionen waren wünschenswert. 3 Millionen nicht auszuschließen. (Wer will und kann das schon genau zählen?)
2. Es ist damit in jeder Hinsicht rekord- und superlativfähig.
3. Alle Medien werden deshalb zentral berichten, auch im Ausland.
4. Es ist auch vom Flugzeug aus noch zu sehen, wenn alle nachts schön durchgrillen, wahrscheinlich auch aus dem Weltall.
5. Es erlaubt nicht nur, sondert erfordert geradezu unendlich viele Hubschrauberflüge für die Organisatoren und Verantwortlichen, wie ich weiter unten noch beschreiben werde.
6. Es ist ganz, ganz große Kunst. Bisher war ja die Aktion „Schachtzeichen“, die Nummer mit den gelben Ballons, „das größte Flächenkunstwerk der Welt“. Die Fläche wäre dieselbe. Aber „Bratwurst auf´m Schwenkgrill“ geht weit darüber hinaus. Spricht es doch nicht nur die Augen an, sondern auch die Geschmacksnerven und den Geruchssinn, und damit Sensoren, die bisher in der Kunst völlig vernachlässigt werden. „Bratwurst auf´m Schwenkgrill“ wäre also das größte multisensorische Flächenkunstwerk der Welt, in ihm würde sich der Mensch mit all seinen sensorischen Potentialen verwirklichen. Ein Novum in der Geschichte der Kunst. Ein Meilenstein auf dem unendlichen Weg der Menschwerdung.
7. Es holt die Menschen da ab, wo sie sowieso gern stehen, bringt sie in Kontakt und Kommunikation miteinander. Eine perfekte Verbindung von Alltagskultur und großer Kunst.
8. Es ist absolut typisch für das Ruhrgebiet und seine Geschichte, weil es auf unnachahmliche Weise die Elemente Kohle, Stahl und Feuer miteinander verbindet. Man stelle sich vor: Eine Woche lang liegt das Ruhrgebiet wieder unter einer fast undurchdringlichen Dunst- und Rauchglocke. Wie in den 50er und 60er Jahren, als die Wäsche noch zum Trocknen draußen auf der Leine hing und regelmäßig von den Rauchschwaden der Stahlwerke und Kokereien vollgesaut wurde. Mehr Ruhrgebiet geht nicht.
9. Es ist also wunderbar rückwärtsgewandt, greift zentrale Klischees vom Ruhrgebiet und seinen Bewohnern auf und verstärkt sie bis zum Geht-nicht-mehr.
10. Es fördert dadurch die Identifikation der Ruhris mit ihrer Region, stärkt aber auch das Alleinstellungsmerkmal unserer Region in der Welt. Schon allein deshalb wird das Ruhrgebiet in Zukunft eine der touristischen Hauptdestinationen in Deutschland und Europa werden. Wenn nicht sogar in der ganzen Welt. Millionen Chinesen, die neuen Reiseweltmeister, werden sich in diesem Qualm und Rauch sofort heimisch und an die Garküchen auf ihren Straßen erinnert fühlen. (Wenn man die rechtzeitig mobilisiert, ist Kriterium 1 locker zu schaffen.)
11. Es ist multikulti, weil auf dem Grill alles erlaubt ist, deutsche Bratwurst, türkischer Hammel, portugiesische Sardine usw.
12. Große Baumärkte und Lebensmittelhändler bekommen jede Menge zu tun. Das schafft Arbeitsplätze und stärkt den Wirtschaftsstandort. Die Sponsoren werden Schlange stehen.
Nun könnte man fragen, wo bleibt bei so viel Rückwartsgewandtem und Klischeehaftem das Neue, das Innovative, die Zukunft? Um es kurz zu machen: Der Schwenkgrill macht den Unterschied! Ein normaler Stand- oder Tischgrill wäre statisch, konservativ, irgendwie spießig. Der Schwenkgrill aber symbolisiert in seiner Beweglichkeit nach allen Seiten Flexibilität und Weltoffenheit. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der das schwere Metall über der heißen, lebensfeindlichen Glut schwebt, verkörpert den Aufbruch, die Ablösung von den harten Arbeits- und Lebensbedingungen der Vergangenheit, den Strukturwandel. Wandel durch Kultur, Kultur durch Wandel. Was könnte diesen Slogan besser verkörpern als ein Schwenkgrill?
Und noch auf andere Weise versinnbildlicht dieses Projekt die Zukunft. Es ist in diesem Jahr einfach nicht mehr zu organisieren, muss also auf das nächste Jahr verschoben werden. Damit beantwortet es gleichzeitig die Frage, was von diesem Kulturhauptstadtprogramm letztendlich bleibt, wie es mit der Nachhaltigkeit bestellt ist. – Wir machen im nächsten Jahr einfach weiter wie in diesem Jahr und im Jahr danach auch und im Jahr darauf vielleicht wieder. Nachhaltiger geht doch kaum.
Bleibt noch die Sache mit den Hubschrauberflügen zu klären. Abgesehen von der Tatsache, dass ich noch nie im Hubschrauber geflogen bin und jetzt endlich auch mal dran wäre, bringen die Hubschrauber das ökologische Element in die Geschichte. Wenn das Ruhrgebiet eine Woche lang unter dem dichten Mief und Qualm von Brandbeschleunigern aller Art, von unvollständig abbrennender Kohle, von verbranntem Fett und verkokeltem Fleisch liegt, bringen die Hubschrauber nicht zuletzt frischen Wind in die Sache. Sie erfüllen den Traum vom blauen Himmel über der Ruhr und verkörpern damit ebenfalls den Strukturwandel und die Zukunft. Sie sind das Symbol der Katharsis.
An den einen oder anderen Punkt müsste man vielleicht noch mal einen Konzeptkünstler oder PR-Fachmann setzen. Aber sonst finde ich die Sache schon ziemlich zwingend.
Was heißt eigentlich „Bratwurst auf´m Schwenkgrill“ auf Englisch?