
Accattone, Ruhrtriennale 2015 © Michael Kneffel
Theater, Tanz und Musik in alten Industrieanlagen zu präsentieren ist das Markenzeichen der Ruhrtriennale. Allerdings begannen Kulturschaffende schon lange vor diesem Festival, ehemalige Zechen, verlassene Eisenhütten und öde Industriebrachen im Ruhrgebiet zu bespielen. Ich erinnere mich noch gut an die erste internationale Tanzmesse in den 90er Jahren auf dem Gelände der Zeche Zollverein und an eine Tanzproduktion irgendwo ganz oben in der ehemaligen Kohlenwäsche kurz vor Mitternacht. Es war nahezu dunkel, eiskalt und um uns herum lag fingerdicker Staub, in dem die Tänzerinnen und Tänzer auftraten. Die Arbeitsbedingungen für die Künstler waren halsbrecherisch, aber auch die Zuschauer mußten einige Abenteuer bestehen, bis sie ihre Plätze unter wärmenden Wolldecken einnehmen konnten. Führer mit Taschenlampen geleiteten die Besucher von einem Veranstaltungsort zum nächsten und sorgten dafür, dass niemand in eines der vielen ungesicherten Löcher auf dem Gelände fiel. In manchen Räumen der ehemaligen Waschkaue stand das Wasser knöcheltief. Trotzdem wurde dort getanzt. Und nicht zuletzt deswegen war das so faszinierend.

Accattone, Ruhrtriennale 2015 © Michael Kneffel
Als die Ruhrtriennale 2002 den Betrieb aufnahm, waren viele Industrieanlagen bereits im Rahmen der Internationalen Bauausstellung IBA Emscher saniert und mit anspruchsvoller Veranstaltungstechnik ausgestattet. Über die Jahre wurden die Arbeitsbedingungen für die Künstler immer besser, und die Produktionen immer aufwändiger. Für Willy Deckers TRISTAN UND ISOLDE wurde eine gewaltige, scheinbar beliebig neigbare Bühne in die Jahrhunderthalle gebaut, für David Pountneys DIE SOLDATEN eine riesige, bewegliche Zuschauertribüne. Akustiksegel unter den Dächern optimieren den Klang und imposante Lichtanlagen können mittlerweile jede beliebige Lichtstimmung erzeugen. Dabei entwickelte sich – nicht nur, aber auch – eine Tendenz zum Überwältigungstheater, bei dem mitunter alle Register gezogen wurden, um die Zuschauer maximal zu beeindrucken und mit vor Staunen offenen Mündern aus den Hallen zu entlassen.

Accattone, Ruhrtriennale 2015 © Michael Kneffel
Mit seinem Musiktheaterstück ACCATTONE ist nun Johan Simons am Beginn seiner Intendanz einen ganz anderen Weg gegangen, zurück zu den Wurzeln der „Industriekultur“ im Ruhrgebiet und zurück zu den Anfängen seiner eigenen künstlerischen Karriere, in jene Zeit, als er mit seiner Theatergruppe HOLLANDIA in leeren Industriehallen, Ställen, Kirchen, auf Schrottplätzen und unter Brücken die Nähe zu seinem Publikum suchte.

Accattone, Ruhrtriennale 2015 © Michael Kneffel
Schauplatz der Spielzeiteröffnung 2015-2017 ist die 200 Meter lange Kohlenmischhalle der ehemaligen Zeche Lohberg in Dinslaken, die zum ersten Mal für die Ruhrtriennale bespielt wird, eine öde Fläche aus Staub, Sand und Schotter unter einem dunklen Dach, darauf nur die vergleichsweise kleine Bühne für den Chor und das Orchester und zusätzlich ein Container. Und es gibt noch ein Loch im Boden, keine Scheinwerferbatterien, die diesen Unort effektvoll in Szene setzen würden, nur ein Feuer ganz hinten in der Halle. Weniger geht kaum noch. Ich muss zugeben, dass ich unmittelbar nach dem Stück ziemlich enttäuscht war. Mit etwas Abstand gefällt mir die radikale Beschränkung auf das Notwendigste jedoch inzwischen sehr gut, und ich bewundere den Mut, mit dem Johan Simons nicht nur meine Erwartungen, sondern vermutlich auch die vieler anderer Ruhrtriennale-Besucher unterschritten hat. Ich muss allerdings auch zugeben, dass mich das Stück nicht über die vollen fast zweieinhalb Stunden gefesselt hat. Auch hier wäre für mein Gefühl weniger mehr gewesen.

Accattone, Ruhrtriennale 2015 © Michael Kneffel
Mehr Fotos von der Aufführung sind hier auf meiner Hompage zu sehen.